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Wir fordern unser Recht auf Gewerkschaftsfreiheit!

Obwohl die Gewerkschaftsfreiheit (Koalitionsfreiheit) in der Bundesverfassung garantiert ist, wird sie in unserem Land noch lange nicht überall eingehalten.

 

Die Genfer Aktionsgemeinschaft der Gewerkschaften CGAS, der auch syndicom angehört, führte am 7. Oktober anlässlich des Welttags für menschenwürdige Arbeit zusammen mit dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) eine Kundgebung durch. Dabei ging es um die Einhaltung der Gewerkschaftsfreiheit, die sowohl vom Gesetzgeber als auch von den Gerichten immer wieder verletzt wird. Praktisch täglich werden der Schutz der Personalvertreter und -vertreterinnen gegen antigewerkschaftliche Kündigungen oder das Zugangsrecht der Gewerkschaften zu den Arbeitsplätzen missachtet, obwohl sie in internationalen Abmachungen festgehalten sind, die auch von der Schweiz unterzeichnet wurden.


Lächerlicher Schutz ohne abschreckende Wirkung

 

So besteht kein wirklicher Kündigungsschutz für die Mitglieder von Personalkommissionen (PeKo). Sie riskieren häufig eine Entlassung, wenn sie sich engagiert für ihre Kolleginnen und Kollegen und deren Arbeitsbedingungen einsetzen. In den letzten Jahren wurden verschiedene Personalvertretende auf die Strasse gestellt: Daniel Suter beim «Tages-Anzeiger» (syndicom und impressum), Marisa Pralong bei Manor (Unia) oder Jean-Marc Coulon bei Matisa (Unia). Der jüngste Fall betraf die Entlassung der Vertreterin des Vorstufen-Personals in Genf von Tamedia/Edipresse. Andere Gewerkschaftsvertreter haben zwar ihre Stelle noch, sind aber wegen ihrer gewerkschaftlichen Aktivität dem Druck der Direktion ausgesetzt, wie zum Beispiel Aissam Echchorfi (SEV) bei den Lausanner Verkehrsbetrieben. In einigen besonders gewerkschaftsfeindlichen Unternehmen wie M+S Reliure in Yvonand war der Druck auf die Personalvertreter und -vertreterinnen so gross, dass sich die PeKo aufgelöst hat und sich im Betrieb ein Klima der Angst breitmacht.

 

Das hat auf mehreren Ebenen gravierende Folgen. Zunächst geht es immer um Einzelschicksale. Die Betroffenen verlieren ihre Arbeit, bloss weil sie ihr verfassungsmässiges Recht ausgeübt haben. Die Unternehmen setzen sie auf eine schwarze Liste, und sie finden keinen Job mehr.

 

Sodann schrecken diese offensichtlichen Risiken viele Angestellte davon ab, sich für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und für ihre Kolleginnen und Kollegen zu engagieren. Dies schwächt die gewerkschaftliche Präsenz in den Unternehmen und fördert die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Vor allem aber wird der Begriff Sozialpartnerschaft damit komplett ausgehöhlt. Dabei ist dies die Grundlage des schweizerischen Arbeitsrechtes! Die elementarsten Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft werden missachtet. Als ob die Demokratie an der Unternehmenstüre aufhörte!

 

Klassenjustiz

 

Man müsste meinen, dass die Justiz den verfassungsmässigen Bestimmungen und internationalen Verpflichtungen der Schweiz bezüglich der Gewerkschaftsfreiheit Nachachtung verschafft, «die schwächere Partei im Arbeitsvertrag» schützt und den Arbeitgebern die rechtsstaatlichen Prinzipien in Erinnerung ruft. Leider hat sich gezeigt, dass die Schweizer Justiz nach wie vor eine bürgerliche Justiz ist, eine Klassenjustiz, welche nicht in der Lage ist, die Grundrechte der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung zu schützen. Das Zürcher Obergericht ging sogar so weit, den Rauswurf des PeKo-Präsidenten bei einer Massenentlassung als positiv zu bezeichnen, da die Sozialplan-Verhandlungen wegen seiner persönlichen Betroffenheit zu besseren Ergebnissen geführt hätten als frühere Sozialpläne.

 

Der SGB hat schon 2003 eine Klage wegen Verletzung der Übereinkunft Nr. 98 beim Ausschuss für Gewerkschaftsfreiheit des Internationalen Arbeitsamts (IAA) eingereicht, um die Entwicklung im Sinne des internationalen Rechtes zu beschleunigen. In der Klage bemängelt er namentlich den «lächerlichen und nicht abschreckenden» Umfang der von den Gerichten verhängten Entschädigungszahlungen sowie das Fehlen der Möglichkeit einer Wiedereinstellung. Der Ausschuss empfahl der Schweizer Regierung nachdrücklich, «Massnahmen zu ergreifen, um für Gewerkschaftsvertretende, welche Opfer von antigewerkschaftlichen Kündigungen geworden sind, die gleichen Schutzbestimmungen einzurichten wie bei Kündigungen, welche gegen das Prinzip der Gleichbehandlung von Mann und Frau verstossen, einschliesslich der Möglichkeit einer Wiedereinstellung, in Anbetracht der Grundprinzipien [der Internationalen Arbeitsorganisation IAO], die von der Schweiz ratifiziert worden sind».


Ungenügender Revisionsentwurf

 

Der SGB hat seine Klage später sistiert, um die Ergebnisse einer Vernehmlassung abzuwarten, die der Bundesrat zur Revision der Rechtsbestimmungen zum Schutz von PeKo-Mitgliedern durchgeführt hat. Umso grösser war die Enttäuschung: Im Revisionsentwurf ist gerade mal vorgesehen, die Entschädigungszahlungen bei missbräuchlichen oder ungerechtfertigten Kündigungen von gegenwärtig sechs auf zwölf Monatslöhne anzuheben3. Zudem kann eine Kündigung von Personalvertretern und -vertreterinnen «aus wirtschaftlichen Gründen» neu leichter als missbräuchlich eingestuft werden.

 

Alles, was darüber hinaus geht, wurde vom Departement der ehemaligen SVP-Vertreterin Widmer-Schlumpf mit der Aufforderung an die Sozialpartner zurückgewiesen, den Schutz zu verbessern. Dabei steht im Departementsbericht, dass «die Standpunkte der Sozialpartner unvereinbar waren»!4 Und weil niemand damit zufrieden ist, geht es mit dem Entwurf nicht vorwärts – für die Arbeitgeber sind auch Kleinigkeiten schon zu viel. Jetzt muss der SGB seine Klage beim IAA wieder aktivieren. Auch daran wurde an der Kundgebung vom 7. Oktober erinnert.


Zugangsrecht zu den Arbeitsplätzen

 

Auch die Nichtanerkennung des Zugangsrechtes der Gewerkschaften zu den Arbeitsplätzen ist eine weitere gängige Verletzung des internationalen Arbeitsrechtes durch die Schweiz. Verschiedene Unia-Vertreterinnen und -vertreter sind von den Arbeitgebern schon wegen Hausfriedensbruchs angeklagt worden, bloss weil sie ihrer gewerkschaftlichen Informationsarbeit bei den Angestellten nachkamen; Beispiele sind die Migros in Basel und im Tessin und neulich der Besitzer des Domaine de Châteauvieux, eines Restaurants in Genf.

 

Die meisten Klagen werden wieder zurückgezogen oder es wird nicht darauf eingetreten, bzw. sie enden mit einem Freispruch. Dennoch greifen Arbeitgeber gerne zu diesem Mittel, um die Gewerkschaften auf Distanz zu ihren Angestellten zu halten. Gewisse superliberale Gerichte halten es nicht immer so streng mit der Gewerkschaftsfreiheit gegenüber der Freiheit des Privateigentums. Ein VPOD-Genosse hat dies im Jahr 2008 in Yverdon-les-Bains erleben müssen: Er wurde des Hausfriedensbruchs in einem Pflegeheim für schuldig gesprochen und zu 20 Stunden gemeinnütziger Arbeit auf Bewährung verknurrt, neben einer Busse von 1500 Franken und 1350 Franken Anteil an die Gerichtskosten.5 Dem Vorsitzenden des Zivilgerichts hatte es beliebt, das vom Untersuchungsrichter beantragte Strafmass noch zu erhöhen.

 

Auch in unseren Sektoren stellt sich diese Frage häufig. Zahlreiche antigewerkschaftliche Firmen in der grafischen Industrie, in gewissen Regionen auch die Schweizerische Post verweigern uns den Zugang zu ihren Räumlichkeiten und zu ihrem Personal, obwohl einige von ihnen dem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt sind. Auch syndicom-Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre werden regelmässig mit Klagedrohungen wegen Hausfriedensbruchs eingedeckt.


Privateigentum vs. Gewerkschaftsfreiheit

 

Die Rechtssprechung des Ausschusses für Gewerkschaftsfreiheit des IAA-Verwaltungsrates befasste sich schon mehrfach mit dieser Thematik und ist eindeutig: «Damit die Gewerkschaftsrechte auch einen realen Inhalt haben, müssen die Arbeitnehmenden-Vertretungen in der Lage sein, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten, indem sie über die notwendigen Elemente zur freien Ausübung der Aktivitäten rund um die Vertretung der Arbeitnehmenden verfügen.»

 

Der Ausschuss anerkennt selbstverständlich, dass die Eigentumsrechte sowie die Betriebsabläufe im Unternehmen respektiert werden müssen, aber er weist die Regierungen darauf hin, dass sie «den Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern den Zugang zu den Arbeitsplätzen garantieren müssen, damit die Gewerkschaften mit den Arbeitenden kommunizieren können, um sie über die Vorteile zu informieren, welche der Gewerkschaftsbeitritt ihnen bringen kann». Der Ausschuss geht noch weiter und sagt, dass «die Arbeitnehmervertretenden Zugang zu sämtlichen Arbeitsplätzen im Unternehmen haben sollten, soweit dieser Zugang notwendig ist, um ihnen die Wahrnehmung ihrer Vertretungsfunktionen zu gestatten.» Der Begriff «Arbeitnehmervertretende» beschränkt sich dabei nicht auf die Angestellten des Unternehmens: «Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertreter, die selbst nicht von einer Unternehmung angestellt sind, deren Gewerkschaft aber Mitglieder unter dem Personal vertritt, sollten ebenfalls Zugang zum Unternehmen haben.»

 

Die liberalen Argumente, gemäss denen das Privateigentum schwerer wiegt als die Gewerkschaftsfreiheit, sind umso absurder und unredlicher, als letztlich der Richter darüber befinden muss, ob die Einschränkung der Eigentumsrechte exzessiv sei. Gemäss der Rechtssprechung6 kann die Ausübung eines verfassungsmässigen Rechtes grundsätzlich nicht als exzessiver Eingriff in die Eigentumsrechte gelten. So müssen die Arbeitgeber auch Arbeitsinspektoren Zugang zu den Unternehmensräumlichkeiten gewähren. Zudem anerkennt das Bundesgericht, dass der Zugang zu den Arbeitsplätzen durch die Gewerkschaft mit der Verteidigung legitimer Interessen begründet werden kann, was gewisse Einschränkungen des Eigentumsrechts rechtfertigt.

 

Ganz offensichtlich ist diese Rechtsentwicklung noch nicht bis in sämtliche Unternehmensleitungen vorgedrungen und noch nicht einmal zu allen Schweizer Richtern, geschweige denn zu Viscom, dem Arbeitgeberverband der grafischen Industrie, oder zu den Redaktionen gewisser Medien.

 

Tatsächliche Anwendung des Rechts

 

Wir beharren jedenfalls auf das Recht auf Zugang zu den Arbeitsplätzen, vor allem angesichts der Deregulierung und der Flexibilisierung der Arbeitszeiten mit Arbeit auf Abruf oder Teilzeitarbeit sowie der Zunahme von Überstunden und der steigenden Arbeitsintensität. Eine solche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen bedeutet eine ernsthafte Einschränkung der Möglichkeiten der Lohnabhängigen, sich ausserbetrieblich an gewerkschaftlichen Aktivitäten zu beteiligen.

 

Nun kann aber eine Gewerkschaft die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter nur dann wirklich vertreten, wenn sie mit ihnen auf korrekte Weise kommunizieren kann. Dies wiederum ist eine Voraussetzung für die vollwertige Erfüllung ihrer Rolle als Sozialpartnerin bei den Verhandlungen über Gesamtarbeitsverträge, ganz abgesehen von den Interventionen bei ihren Mitgliedern.

 

Dies gilt insbesondere für die grafische Industrie, wo es der Gewerkschaft nicht möglich ist, ihre Kontrollfunktionen zur Einhaltung des Gesamtarbeitsvertrags durch die Unternehmen zu erfüllen, wenn sie zu Letzteren gar keinen Zugang hat. Auch dies belegt erneut, wie unbedingt notwendig es ist, dass eine paritätische Branchenkommission mit richterlichen Kompetenzen geschaffen wird.


Zeit zu handeln

 

Die Behörden von Bund und Kantonen bleiben unter dem Einfluss mächtiger Unternehmerlobbys vorerst bei ihrer Weigerung, uns jene Rechte einzuräumen, die in einer demokratischen Gesellschaft grundlegend wären. Und indem sie die allgemein anerkannten Gewerkschaftsfreiheiten auf ihrem Territorium nicht anerkennt, verletzt die Schweiz ihre internationalen Verpflichtungen bezüglich der Gewerkschaftsrechte; sie ist mit verantwortlich für den Niedergang der Arbeiterbewegung unter den zufriedenen Augen der Unternehmerkreise. Lassen wir uns das bieten? Sicher nicht.

 

Mit der Kundgebung vom 7. Oktober haben wir unseren Behörden in Erinnerung gerufen, dass sie sich mit der Unterzeichnung der IAO-Übereinkommen verpflichtet haben,

  • die Gewerkschaftsfreiheit gemäss der IAO-Definition nicht zu beeinträchtigen;
  • die nationalen Gesetze nicht so anzuwenden, dass eine Beeinträchtigung erfolgt;
  • und sowieso alle notwendigen und angemessenen Massnahmen zu ergreifen, um den Arbeitnehmenden die freie Ausübung der Gewerkschaftsrechte zu gewährleisten.

Gleichzeitig erinnern wir daran, dass es höchste Zeit ist, endlich den Verpflichtungen gegenüber den 4,8 Millionen Lohnabhängigen in der Schweiz nachzukommen.

Wir haben mit dieser Manifestation auch kundgetan, dass wir jetzt lange genug gewartet haben und dass wir nun zu Taten schreiten werden; wir können uns nicht auf den guten Willen unserer von den Patrons beeinflussten Behörden verlassen, um unsere Gewerkschaftsfreiheit mit echten Inhalten zu versehen.

 

Yan Giroud, Regionalsekretär und Verantwortlicher Grafische Industrie und Verpackungsdruck in der Romandie

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